14. Oktober 2013

Das dünne Blattpapier

Ein neunjähriger Honigcroissant-Junge und sein Vater, der sich oft ohne jeglichen Grund um alles mögliche Sorgen machte, fuhren zu einem Schachturnier mit ihrem alten Auto auf der Autobahn, die von unten nach oben durch das ganze Land zum kalten Meer führte. Draußen schien die Herbstsonne, die friedlich und zart auf die frisch abgeernteten Felder strahlte. Es gab fast keinen Gegenverkehr, da die meisten Menschen am Sonntag noch schliefen, statt rum zu Fahren. Er war nervios, was sich in seiner Gestik, Abgerissenheit der Gedanken und häufige fragende Blicke in den Rückspiegel zu seinem Sohn wiederspiegelte, der immer freundlich zurück lächelte, sonst las das Kind in seinem Buch oder spielte auf dem Smartphone. Das Bevorstehende belastete jedes Mal sehr das erregte Gemüt des Vaters.


Nach der Anmeldung blieb ihnen noch eine gute halbe Stunde Zeit vorm Beginn der ersten Partie. Sie aßen in der Schulcafeteria zwei halbe Nutellabrötchen und begrüßten nach und nach viele ihnen bekannte Kinder, ihre Eltern, Trainer, Vereinsbetreuer und Ausrichter. Dann rannte sein Sohn mit seinen Kumpels weg, um das Turnier austragende Schule zu erforschen und den Klassenraum zu finden, wo sie den ganzen Tag heute spielen werden. Der Vater lächelte stolz, als einige älteren Kindern auf seinen Sohn zeigten: „Guck mal, das ist doch unser Grünie!“ Während der Landesmeisterschaften, die eine Woche dauerten und in diesem Frühjahr stattfanden, trug sein Kind eine hellgrüne Jacke.

Erste Partie „Hungry Shark“

Ich bin ein sehr hungriger Hai. Als ich mehrere Schildkröten, dutzend Seepferdchen, einen widerstandslosen Schwimmer und sogar einen Angler mit Leichtigkeit auffraß, merkte ich, dass mein Gegner ein Neuling ohne JWZ-Punkte war. Er wollte schließlich kontern und setzte gegen mich sein U-Boot ein, das mir schon etwas Sorgen bereitete, doch ich sammelte bereits genug Schätze, um mich auf der achten Linie in einen 10 Tonnen schweren Weißen Hai zu verwandeln, und machte kurzen Prozess mit ihm. Zu Beginn eines Wettbewerbs habe ich meistens Glück und bekomme eine leichte Beute. Der erste Punkt ist gewonnen! …Nur einmal ist es dem Vater während eines Wettbewerbs gelungen, etwas Nützliches für sich selbst zu tun. Er korrigierte einigermaßen erfolgreich seine Webseiten in einem Pausenraum, wo es jede Menge Leute um ihn herum gab. Auf der Rückfahrt versuchte er seinem Sohn zu erklären, was er an diesem Tag besonders toll fand. Er holte weit aus…

Zweite Partie „Temple Run“

Die heiße Sonne erhitzte die Wüste, wo einst ein riesiger und prächtiger doch heute menschenleerer Palast stand. Ich verwandelte mich in einen jungen persischen Prinzen, der gegen böse Dämonenaffen kämpfte. Sie dominierten, waren sehr schlau und bestens organisiert. Ich flüchtete vor ihnen nach links und rechts, sprang oder rutschte über Hindernisse, versuchte nicht über die Abgrenzung zu laufen und sammelte goldene Münzen und Punkte. Das Weglaufen war meine einzige Rettung. Nach zwanzig Minuten der Verfolgung war ich völlig erschöpft, konnte meinen Körper nicht mehr kontrollieren und stürzte von der Palastmauer in den bodenlosen Abgrund. …Es gibt Eltern, die ihre kleinen Kinder in Begleitung eines Vereinsbetreuers zum Wettbewerb schicken. Sie sind entweder arm oder es ist ihnen egal, was dieses Kind gerade tut. Wenn es uninteressant für den Kleinen wird, hört er auf und wenn er ein Pokal nach Hause bringt, stellt er es ins Bücherregal in seinem Zimmer. In der Wohnung der Mutter oder des Vaters…

Dritte Partie „Clash of Clans“

Dieser Gegner war schwach. Er konnte mir, dem Gründer eines starken Clans, dem Erbauern eines großen, gut beschützten und blühenden Dorfes, dem erfahrenen und elitären Kriegsherren keinen Widerstand leisten. Ich war in der Uniform, hatte einen Kriegshelm an und einen Schwert in der Hand. Im Morgengrauen, als sein Dorf noch schlief, attackierte ich ihn. Mit Kriegsmagiern, Barbaren, Kobolden und Drachen zog ich in den Kampf. Die Kriegsmagier sprengten seine Schutzmauern, die Drachen setzten seine Türme außer Gefecht, die Barbaren und Kobolde umgingen seine Festung und rannten zu seinem Speicher, wo das dunkle Elixier aufbewahrt wurde. Ich opferte nur einen Drachen, um Aufmerksamkeit des Feindes abzulenken und besiegte ihn bald. Dieser Sieg brachte keine große Befriedigung, aber ich nahm ihm sein Elixier weg und brannte das Dorf nieder. Ich hatte den wichtigen zweiten Punkt. …Es gibt Eltern, die ihr Kind zum Wettbewerb fahren, Partien aufschreiben und sie nach jedem Spiel analysieren. Nur der Sieg zählt, da sie glauben ein talentiertes Kind zu haben, der gewinnen kann und muss. Einmal hörte er, wie ein Vater zu seinem fünfjährigen Sohn sagte: „Sascha, wenn du einen falschen Zug machst, tust du mir damit weh. Du willst das doch nicht, oder?“

Vierte Partie „Star Wars: The Clone Wars“

Auf dem Korallenmond Rugosa wartete Toydarianischer Monarch Katuunko auf die Ankunft des Jedi-Meisters Yoda. Zusammen mit mir kamen nur drei Klonkrieger, denn das ausreichend sein wird. Meine Aufgabe war, den Herrscher von Toydaria zu überzeugen, dass die Galaktische Republik stark ist, nicht scheitern und nicht versagen wird. Gegen mich kämpfte ein Bataillon der Druidenarmee, geführt von Asajj Ventress. Ihr Vater, Count Dooku, wollte den König Katuunko für die Separatisten gewinnen, falls ich verliere. Wir schlugen uns gegen die Infanterie von „Roger-Roger“, ihre Maschinengewähre und Panzer, gegen Asajj, die mit zwei Lichtschwerten und mit Hilfe des Verstandes seines Hologramm-Vaters kämpfte. Welche Eigenschaften muss man besitzen, um einen mächtigeren Feind zu besiegen? Teamgeist, Klugheit, Scharfsinn und Geduld. Wir hatten diese Fähigkeiten und trieben die Gegnerin in die Ecke. Sie wollte oder konnte nicht mehr spielen und gab auf. Mein dritter Punkt in der Gesamtwertung. …Es gibt Eltern, die mit Hilfe ihres hochbegabten Kindes aus der Tiefe ihres kümmerlichen Daseins in das wirkliche Leben hinaus schaffen wollen, das sonst an ihnen vorbei rauschen würde. Die Siegesfreude und sogar die Bitterkeit der Niederlagen machen sie glücklich und wichtig in ihren eigenen Augen. Der Sinn des Lebens ist dieses Kind…

Fünfte Partie „Doodle Jump“

Ich bin Doodler, ein vierbeiniges gelb-grünes Wesen, und mein Ziel ist auf einer endlosen Reihe von Plattformen immer höher zu kommen, ohne dabei herunterzufallen. Balancierend sprang ich in gewünschte Richtungen. Mein Gegner warf mir eine Plattform nach der anderen zu, ich nahm sie und sammelte Spielpunkte. Nach einer gelungenen Kombination auf dem Sprungbrett bereitete ich mich für den entscheidenden Sprung. Ich setzte mir einen Propellerhut auf und stieg in die Luft, aber bekam einen heftigen Stoß in die Brust und fiel gleich in den Abgrund. Das war ein Monster, den ich übersehen und nicht rechtzeitig abgeschossen hatte. Ich war mir so sicher und bemerkte den Verteidiger nicht. Ich verließ den Klassenraum und ging nach draußen zu meinem Vater, der auf einer Bank saß und auf mich wartete, vergrub mein Gesicht in seinen Händen und weinte. Tränen liefen über meine Wangen und er beruhigte mich.

Sechste Partie: Fußball

In den Pausen zwischen den Partien spielten wir Fußball auf dem Schulhof. Mein langjähriger Rivale war auch da. Während des Spiels fiel ich auf den Boden und sein älterer Bruder lief über meinen Rücken. Ich stand auf und spielte weiter. Dann wurden wir zur nächsten Partie gerufen und ich musste gegen den jüngeren Bruder eintreten. Er war sehr stark und selbstsicher, hatte den Vorteil auf seiner Seite, doch verpasste meinen Angriff und verlor das Spiel. Nun hatte ich vier Punkte. …Vielleicht gibt es diese Arten von Eltern gar nicht. Sie alle gehen durch die Kreise der Schachhölle: unbeschwerte Zeit des Lernens, glückliche Zeit der ersten Siege, die Zeit der Entwicklung, die Zeit des Stresses und der Notwendigkeit zu gewinnen. Ich fürchte, nach der Zeit der Entwicklung wird es bald mit dem Schach vorbei sein. Zwischen uns herrschte an jenem Tag Harmonie. Jeder von uns ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach und wir waren zusammen. Du spieltest unbeschwert Schach und warst nach den Partien mit den Jungs draußen. Ich unterstützte und betreute dich und erledigte erfolgreich meine eigenen Aufgaben. Es war keine Nervosität da und auch kein Gefühl der Frustration wegen der Unfähigkeit, Spielereignisse zu beeinflussen.

Siebte Partie „Harry Potter“

Trimagisches Turnier ging zu Ende. Cedric Diggory und ich griffen gleichzeitig nach dem verzauberten Pokal, der uns aus dem Labyrinth voller Fallen auf einen Friedhof transportierte. Wir waren in einer Falle, wurden von Todessern umgeben und schließlich konnte Lord Voldemort zu seinen Kräften kommen. Er tötete Cedric, wir richteten unsere Zauberstäbe aufeinander und kämpften, machten clevere Züge und kombinierten. Er war stärker als ich und ich musste fliehen. Diese Partie war verloren. …Nach der Siegerehrung mit Urkunden und Pokalen trennte der Vater die Turniertabelle mit dem Stand des Wettkampfes vor dem entscheidenden letzten Spiel vorsichtig von der Wand und nahm das dünne Blattpapier zusammen mit der Urkunde seines Sohnes ins Auto mit. Viele Schachspieler fuhren bereits nach Hause, doch der Vater spürte immer noch die Gegenwart des hohen Geistes und der Intelligenz in der Luft und in Gegenständen um im herum. Er dachte daran, wie viele Kinder und Erwachsene schauten sich dieses Blattpapier an, wie viele Emotionen, Gedanken, Hoffnungen und Enttäuschungen es in sich aufgenommen hatte und welche magischen Kräfte jetzt besaß.

Eine sehr schöne Schachpartie

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