29. September 2013

Der Traum

Wolkenloser hellblauer Morgenhimmel wurde über dem Boden zum gelbgrauen Dunst, der Steinhäuser und Ziegelminaretten einer kleinen Stadt, Turmkräne, Speicher und gestapelte Container eines Frachthafens umhüllte. Er verwischte die Konturen über dem Meer in die Höhe strebenden Küstengebirge und verwandelte sich in einen dichten Nebel über dem Wasser.
Ein etwa neunjähriger Junge lief über den feuchten und kalten Sandstrand zum Meer. Er erkannte ihn sofort. Große braune Augen, kurz geschnittenes dunkelblondes Haar, offene Stirn, schöner Hals, gut gebaut, mit der etwas zu schmalen Taille und schlanken Beinen. Das Kind trug eine rote Badehose, leichte Sandalen und auf seiner Brust baumelte ein silbernes orthodoxes Kreuz an einer langen dünnen Silberkette. Seine Mutter stand in der Nähe in rosa Sommerhose und einem hellen T-Shirt und bat ihn bestimmend, nicht ins Wasser zu gehen.



Instinktiv schnappte er nach Luft. Er merkte kaum, was um ihn herum geschieht und ging direkt zum Wasser. Das Meer überraschte ihn mit seiner Wärme. Er ging hinein, bis der Boden unter seinen Füssen verschwand, dann schwamm er. Nach einiger Zeit kam er wieder zur Besinnung und drehte zum Ufer zurück, doch bald wurde ihm klar, dass die Strömung ihn ins offene Meer trieb. Als ihm die Kräfte ausgingen, begann er zu ertrinken. Niemand konnte ihm helfen, niemand sah ihn vom Ufer. Bevor das Wasser über seinem Kopf schloss, konnte er zum letzten Mal Luft einatmen und die Strömung zog seinen Körper in die Tiefe hinein.

Kleiner Sohn

Heute hatten wir einen Mathetest. Zum Frühstück backte Oma Pfannkuchen und ich rannte in die Küche. Ich fuhr mit meinem Fahrrad zur Schule. Ich blieb vor der roten Ampel stehen ohne abzusteigen, hielt mich mit einer Hand an der Laterne fest und drückte mit einem Fuß auf die Fußbremse. Super, dass mein Fahrrad Fußbremsen hat! Bevor die Ampel grün wurde (ich wusste, es gibt kein Gelb), stieß ich mich von der Laterne ab, trat in die Pedale und war auf der Straße gerade in dem Moment als es Grün wurde. Ist das nicht Klasse, Papa? In Englisch bekam ich nur dreizehn Punkte von zwanzig. Mit meinem Bruder konnte ich diese Woche nicht üben. Er hatte vermutlich keine Zeit und war nicht in Skype wie verabredet. Doch in der nächsten Woche klappt es bestimmt!
Meine Mutter brachte mich zum ZOB hin. Wir fuhren mit dem Chor ins Landheim übers Wochenende, um dort fürs Musical zu proben. Ich nahm meinen Koffer und rollte ihn zum Bus. Dort ging ich durch die Menge von Kindern und sich verabschiedenden Eltern und begrüßte alle. „Hallo Lisa!“ Ich rannte in den Bus über die Stufen hinein und freute mich, weil ich die Jungs sah. Sie hielten für mich einen Platz frei, sogar zwei, gegenüber dem zentralen Ausgang. Mein Vater kam, ich ging zu ihm raus, wir umarmten uns und standen so eine Weile da. Dann erzählte ich ihm, was ich heute so gemacht hatte. Er bekam anscheinend schlechte Laune wegen dem Englisch. Wir fuhren ab. Ich winkte ihm aus dem Fenster und er winkte zurück: „Und ich dich auch, sehr…“

Exfrau

Mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause, schnell was essen, kofferpacken. Mein Exmann rief mich an. Was wollte er? „Nein, ich bringe ihn selbst zum Bus. Du kannst zum ZOB kommen, wenn du willst“. Ich bekam ein SMS vom Sohn alter Freunde: „Hi, ich bin auf einer Durchreise und könnte vorbeischauen“. Geht leider nicht, ich habe einen Termin. Ich verband ihn mit meinem Ex, sie sollen sich treffen und sich unterhalten. Ich müsste eine rauchen, mein Auto ist falsch geparkt. „So, ich gehe jetzt. Winkst du ihm? Tschüss.“

Patenkind

Ein gut gebauter junger Mann, einundzwanzig, etwa ein Meter neunzig groß, in einem Sommer-T-Shirt, Jeans und bequemen Schuhen, kehrte von einer Geschäftsreise zurück. Ordentlicher Haarschnitt, kleiner Bart auf dem offenen intelligenten Gesicht mit leicht asiatischen Gesichtszügen, große braune Augen.
Sechzig Physik-Doktoranden von einundzwanzig bis dreißig Jahre alt, unter ihnen etwa zehn Frauen, nahmen an Vorlesungen in Teilchentheorie und Quantenmechanik teil. Theoretiker, Praktiker und Gerätebauer wiesen unterschiedlichen Kenntnisstand auf, doch die Lesungen waren so aufgebaut, dass das meiste Material von allen verstanden wurde. Sie wurden in einem katholischen Männerkloster untergebracht. In ihrer Freizeit badeten sie im See, sonnten sich am Stieg und diskutierten sogar einmal über den Gott und die Wissenschaft mit einem Geistigen. Der Disput fing um zwanzig Uhr an und dauerte bis zwei Uhr morgens, doch um fünf Uhr lauteten Glocken zur Morgenmesse und weckten Studenten zu früh, wie jeden Tag.
Ich bekam eine SMS von meinem Chef: „Kannst du in einer Woche nach Cern kommen? Am Samstag brauche ich dich dort.“ Dann fahre ich eben, wenn es sein muss. An diesem Wochenende kann ich wieder segeln. Ist ein reines Glück, dass ich alle Segelstunden mitmachen konnte, aber mein Tennisunterricht fiel komplett wegen dieser Geschäftsreisen aus. Meine Mutter, als ich noch in Moskau wohnte, rief mich ständig an, wenn ich spät nach Hause kam, doch jetzt telefonieren wir nicht mal jede Woche. Sie lädt mich immer wieder nach Hause ein, aber ich will nicht nach Moskau. Sie sollen alle zu mir kommen. „Du siehst sehr müde aus. Komm mal zu uns fürs Wochenende, Ruhe pur, nichts tun“. Mit meinem Vater habe ich fast keinen Kontakt. Du bist nicht der einzige, mit dem er jegliche Kommunikation abbrach. „…Ich mache mir Sorgen um ihn, und wie“,- dachte der junge Mann.

Gast

Attraktive Frau mittleren Alters mit tiefschwarzen kurzen Haaren kam aus Russland, um ihre Tochter zu besuchen. In Deutschland ist mir kalt und ich muss mich immer irgendwie wärmen. Hiesige Luft ist sehr sauber, ohne Abgase. Das Cappuccino im Museum war sehr lecker. Alte Paare gehen hier in Cafés, wie gut sie aussehen, wie sauber und schön gekleidet. Bei uns können sich das nur junge Menschen leisten. Medizinische Versorgung funktioniert nur über gute Beziehungen. Wenn es meinen Freund nicht gäbe, der mich in seinem Krankenhaus untergebracht hatte, wo sie mich ordentlich untersuchten und richtige Medizin verordneten. Ich lag dort zwei Wochen mit Präinfarktangina, weil ich „zwei Stunden vorm Neujahrfest“ arbeitslos wurde. Der neue Bürgermeister setzte am achtundzwanzigsten Dezember komplettes Management des städtischen Hotels auf die Straße und stellte stattdessen „seine“ Leute an. Ich fand eine Stelle als Zimmermädchen in einem privaten Hotel. Das Arbeitsamt sucht für mich etwas Passendes. Neulich ließen sie mich bei einer Firma vorstellen, doch die Leute dort waren Gauner, die Bewerber mit Tricks um ihr Geld brachten. Lustiges Land. Die Lebenserwartung bei Männern beträgt siebenundfünfzig Jahre, aber das Rentenalter ist sechzig. Mein bekannter Oberst a. D. scherzt, er betrüge seit zwölf Jahre den Staat. Am Morgen regnete es und wir fuhren in ein Museum der zeitgenössischen Kunst. Die Exponate dort waren so, dass ich mich die ganze Zeit fragte: „Was haben sie geraucht?“

Sie und Er

Meine Mutter ist bei mir zu Besuch. Tagsüber bin ich mit ihr zusammen und fange mit der Arbeit erst ab 20 Uhr an, wenn sie in ihrem Zimmer liest oder schläft. In den ersten zwei Tagen waren wir in allen Kaufhäusern und kauften für sie Kleidung. Die Bestätigung der Reise nach Paris ist noch nicht da, ich muss sie morgen anrufen. Meine Hand und Bauch tun weh. Ich hole Geld von meinem Konto zurzeit genau so oft wie du. Warum sehe ich dich so selten?
Durch dicken Nebel sah er in der Nähe schwaches pulsierendes Licht. Vielleicht zog ihn die Strömung gerade an einer Boje vorbei. Unter dem Wasser streckte er seine rechte Hand aus und spürte mit den Fingern eine Ankerkette. Er ergriff sie mit beiden Händen und zog sich hoch. Nach dem er die Wasseroberfläche erreichte, klammerte er sich an die eiserne Haltegriffe, atmete lange und tief und konnte schließlich auf diesen rostigen, von Grünalgen bis zum Wasserrand glitschigen Monster aufsteigen. Er ist mit der Frage aufgewacht: „Wurde mir etwa auch dieses Kind genommen?“
Das Sprengel Museum überraschte ihn heute mit seiner großen Niki-de-Saint-Phalle-Sammlung und farbigem Kaleidoskop der Warhol-, Miro-, Picasso-, Kandinsky- und Max-Ernst-Gemälden. Sein kleiner Sohn fuhr übers Wochenende mit dem Chor weg, er traf sich mit seinem Patenkind am Bahnhof in einem Café. Jetzt war er sehr müde. Im Bett ließ er diesen außergewöhnlichen und anstrengenden Tag Revue passieren. Sie weinte leise neben ihm, wahrscheinlich vor Stress und Sorgen um uns alle. Er versuchte sie zu beruhigen, drehte sich dann auf die rechte Seite und schlief ein.

Frühmorgens am Strand

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